Speichen

Den Holzscheiben als Räder der ersten Karren und Kriegswagen folgten mit Zunahme der menschlichen Handwerkskunst erste Speichenräder. Dieser, übrigens von den Ägyptern ca. 1000 vor Chr. kreierte Hit, ratterte nahezu drei Jahrtausende lang über Weg und Steg und selbst heute noch über diesen oder jenen verschlafenen Bauernhof. Die Speichen dieser Räder waren auf Druckbelastung ausgelegt und besaßen daher einen dicken Querschnitt, so wie es auch bei den supermodernen Composite Wheels wieder der Fall ist. Kein Wunder also, daß auch die erste Stahlspeichen der Kurbelfahrräder und Hochräder noch auf diese Druckbelastung ausgelegt und demnach entsprechen dick waren. Mit der Einführung der Tangentialspeichung (1874) änderte sich dies, die Speichen konnten, da nur noch auf Zug belastet, dünner ausgeführt werden und bekamen mit Bogen und Gewinde ihre heutige Form und Gestalt.

Wirkungsweise der Vorspannung

Speichenlaufräder bestehen lediglich aus Nabe, Speichen, Felge und Reifen und gehören daher sicherlich zu den augenscheinlich mehr einfachen mechanischen Gebilden. Recht kompliziert hingegen dürfte das Zusammenspiel der inneren Kräfte in einem Laufrad sein. Seinen Geheimnissen kommen wir aber nur auf die Spur, wenn wir uns ein wenig mit Zahlenangaben und Überschlagsrechnungen beschäftigen. Damit können wir dann nicht nur die Belastbarkeit der Speichen und Größenordnungen der einwirkende Kräfte miteinander vergleichen, sondern bekommen auch ein gewissen Verständnis für die Mechanismen von Vorspannung und Elastizität von dem das Laufrad bildlich gesprochen "lebt" und "überlebt". Die in den Abhandlungen gemachten Kräfteangaben erfolgen in N (Newton) wobei 10 N in etwa 1 kp (Kilopond) entsprechen - der früher üblichen Kraftangabe mit der die Masse von 1 kg (Kilogramm) hier auf der Erde auf seine Unterlage drückt.

Bereits bei einer geringen Kraft von 15 bis 20 N knickt eine Speiche aus, wenn sie auf Druck belastet wird. Anders bei Zugkräften: Da müssen je nach Speichendicke bereits mit 2000 bis 3500 N an den Speichenenden zerren, bevor die Speiche zerreißt. Wie nun aber kann ein Gebilde wie ein Laufrad halten, wenn da ständig Betriebslasten in Form von Druckkräften mit 500 N und mehr von oben danach trachten die Nabe in Richtung Fahrbahn zu drücken, die Speichen aber nur Zugkräfte "verkraften"?

Nun, die Vorspannung macht es: Im eingespeichten Laufrad trachtet jede Speiche danach die Felge mit ihrer Vorspannung von 600 bis 1200 N zu dem jeweiligen Nabenflansch hinunter und herüber zu ziehen, in dem die Speiche eingefädelt ist. Da nun alle Speichen das gleiche wollen, schafft es keine und sauber auszentriert kreiselt die Felge mittig und zwischen den Nabenflanschen. Drückt nun die Betriebslast über die Ausfallenden auf die Nabe, so werden lediglich einige Speichen im Kontaktbereich des Laufraden mit dem Boden entlastet und nach actio gleich reactio wird diese Entlastung den restlichen Speichen als Mehrlast aufgebürdet.

Die Größenverhältnisse in einem Zahlenbeispiel machen die Angelegenheit verständlicher:

Bei einer Betriebslast von angenommen 500 N flacht die Felge im Bodenbereich geringfügig ab und entlastet dabei der Regel 3 Speichen um jeweils 500/3 = 166,7 N, was bei angenommenen 900 N Vorspannung diese auf 733,3 N reduziert. Die Entlastung wird beim normalen 36 Speichenlaufrad nun von den übrigen 33 Speichen kompensiert, was jeder Speiche eine Mehrlast von 500/33, also mal gerade schlappe 15,2 N aufbürdet. Bei einer Bruchlast von rund 3000 N also wirklich kein Problem.

Selbst wenn sich im Extremfall (derber Fahrbahnstoß) die Betriebslasten verzehnfachen ist das bei weiten noch kein Bein-, sprich Speichenbruch: Das elastische Gebilde Laufrad verformt sich nun etwas mehr, die Felge flacht stärker ab. Das entlastet dann etwa 7 Speichen. Die Vorlast reduziert sich für jede der 7 Speichen nun um 5000/7 = 714,3 N. Die Mehrlast für die restlichen nun 29 Speichen beträgt dann 5000/29 = 172,4 N, womit die Speichen immer noch locker fertig werden.

In der Realität ist der Sachverhalt etwas komplizierter, da sich die Felge jeweils am Ende der abgeflachten Bereiches etwas nach außen wölbt. Dadurch bekommen die "Eckspeichen" noch keine kleine aber ebenfalls keineswegs untragbare, zusätzliche Mehrlast auferlegt.

Die Vorspannung des Laufrades durch die Speichen setzt nun Felge und Nabe geradezu ungeheueren Kräften aus. Für diese beiden Bauteile heißt es nun - um bei unserem Beispiel mit 36 Speichen und 900 N Vorspannung pro Speiche zu bleiben - 36 X 900 = 32400 N (Vergleichsweise rund 3,3 Tonnen!!!) zu "verdauen". Keine einfache Angelegenheit und damit bei unsachgemäßer Handhabung auch die ersten Defektmöglichkeiten: Flanschausrisse bei radial eingespeichten Laufrädern oder ein Felgenkollaps bei zu leichtgewichtigen und mit hoher Speichen-Vorspannung eingelegte Felgen können da durchaus die Folge sein. Werden die Speichen hingegen mehr oder weniger tangential eingelegt und ausreichend dimensionierte Felgen verbaut, so kann eine hohe Speichenspannung hingegen sogar eine gute Vorbeugung vor Speichendefekten sein, doch dazu mehr in den Kapiteln Speichen und Speichenbruch.

Seitensteifigkeit

Zusätzlich zu den normalen Betriebslasten, die ja senkrecht auf die Laufräder einwirken, kommen noch die Seiten- und Antriebskräfte hinzu.

Doch bevor wir uns näher damit beschäftigen, müssen wir uns darüber klar werden, wieso das Laufrad überhaupt zu einer gewissen Seitensteifigkeit gelangt. Wie in der Skizze zu sehen verlaufen die Speichen nicht senkrecht zwischen Nabe und Felge, sondern in einem Winkel. Je nach dem Abstand der Nabenflansche voneinander und der verwendeten Felgengröße beträgt der beim Vorderrad 6 bis 8 Grad, beim asymmetrisch eingspeichten Hinterrad entsprechend 3 bis 4 Grad auf der Zahnkranzseite und ebenfalls 6 bis 8 Grad auf der Gegenseite.

Die Vorspannung der schräg verlaufenden Speichen lassen sich nun - der Techniker spricht von der Zerlegung von Kräften - in eine senkrechte und eine horizontale Komponente aufteilen. Mathematisch macht man das über die sogenannten Winkelfunktionen. Die für uns interessante horizontale Komponente errechnet sich nach:

\( F_{h} = F_{Sp} \sin \alpha \)

\(F_{h} \) : Horizontale Anteil der Speichenspannung in N
\(F_{Sp} \) : Speichenspannung in N
\(\sin \alpha \) : Winkel in Grad unter dem die Speiche von der Felge zur Nabe verlaufen

Bei unseren 900 N Speichenspannung und angenommenen 7 Grad Speichenschräge für ein Vorderrad errechnet sich der horizontale Kraftanteil einer Speiche zu:

\( 900 \cdot \sin 7° = 900 \cdot 0,1219 = 109,7 N \)

Im kompletten Speichenlaufrad mit 36 Speichen wird die Felge demnach mit dieser Kraft von jeweils 18 Speichen zum rechten und von 18 Speichen zum linken Nabenflansch herübergezogen. 18 x 109,7 N = 1975 N ziehen also die Felge nach rechts und 1975 N nach links, so daß sich auch hier ein Patt ergibt und die Felge sozusagen spannungsgeladen in der Mitte zwischen den beiden Nabenflaschen bleibt.

Störungen des Kräftegleichgewichtes

Wind dieses Gleichgewicht der Kräfte gestört, beispielsweise durch den Bruch einer Speiche, so wird´s spannend: Die der gebrochen Speichen gegenüberliegenden Speichen sind in der Überzahl und ziehen die Felge ein Stück weit zu ihrem Nabenflansch herüber - das Laufrad bekommt im Bereich der gebrochenen Speiche einen Schlag. Das interessante dabei ist, daß sich nun aber sofort wieder ein Gleichgewicht der Kräfte einstellt hat. Die Speichenschräge, der die Oberhand gewinnenden Speichen nimmt ab, und damit auch deren horizontale Kraftkomponente. Wogegen die der sich in Minderheit befindlichen Speichen zunimmt und damit auch deren horizontale Kraftwirkung: Die Felge befindet sich wieder im Gleichgewicht, wohl mit dem kleinen Schönheitsfehler eines Seitenschlages behaftet.

Gleichzeitig mit dem Seitenschlag stellt sich beim Bruch einer Speiche übrigens auch ein Höhenschlag ein. Durch die fehlenden Zugkraft einer Speichen beult sich die Felge nach außen. Auch hier stellt sich aber wieder ein Gleichgewicht ein, denn die verbliebende Speichen werden etwas gelängt, was ihre Vorspannung erhöht und die Felge somit nur geringfügig auswandern läßt.

Die Felgen von Fahrrad-Hinterrädern kreiselt nicht wie beim Vorderrad mittig zwischen den Nabenflanschen sondern verlaufen in der Mitte zwischen den Gegenmuttern auf der Nabenachse, denn für das Antriebsritzel, bei Kettenschaltungen sind´s sogar 6 bis 9 Ritzel, benötigen wir eine gewisse Einbaubreite. So kommt es, vergleiche auch die nebenstehende Skizze, daß der Abstand des rechten Nabenflansches zum Ausfallende des Rahmen größer ist und entsprechend die Speichenschräge geringer. Für eine 8-fach Nabe nehmen wir einmal 3,5 Grad Speichenschräge an, was dann bei unserer Speichenspannung von 900 N folgende horizontale Kraftkomponente ergibt:

\(F_{h} = 900 \cdot \sin 3,5° = 900 \cdot 0,061 = 54,9 N \)

Das ist ziemlich genau die Hälfte der Horizontalkraft des oben bereits ausgerechneten Vorderrades. Da die Speichenschräge der Gegenseite wie bei Vorderrad etwa 7 % beträgt, bekommen wir die Felge nur dann in die Mitte zwischen den Achsgegenmuttern zentriert, wenn wir deren Spannung nur halb so groß wählen wie die auf der Zahnkranzseite. Das hat natürlich die Konsequenz, daß das Hinterrad dann auch nur die Hälfte der Seitensteifigkeit erreicht, wie die des Vorderrades.

Eine Erhöhung der Seitensteifigekit des Hinterrades ist deswegen nur durch Vergrößern der Speichenschräge (Achsverbreiterung) oder Erhöhen der Speichenspannung möglich. Die nun aber verkraften die Speichen mit einem Durchmesser von 1,8 mm nicht mehr - sie neigen dazu sich oberhalb von 950 bis 1000 N beim Anziehen abzudrehen. Mit 2 mm Speichen hingegen kann die Spannung noch auf etwa 1200 N gesteigert werden, dann ist auch hier (falls eine ausreichend stabile Felge verwendet wird) das Ende der Fahnenstange erreicht.

Seiten- und Antriebskräfte

Wirken durch heftigen Lenkkorrekturen oder dem Radfahren im Stehen, dem sogenannten Wiegetritt, Seitenkräfte auf die Laufräder ein, so wird zunächst wieder das Gleichgewicht der Kräfte gestört. Insgesamt handelt es sich hierbei im Vergleich mit den senkrecht einwirkenden Betriebslasten um recht geringe Kräfte, die in der Regel 300 N nicht übersteigen. Nur wenn ein Fahrrad einmal außer Kontrolle gerät und schlingert werden diese Kräfte überschritten.

Seitenkräfte wirken stets über den Rahmen auf die Naben und der Reifen auf der Straßen hält dagegen. Dazwischen liegen die Speichen, von denen wiederum ein Teil eine zusätzliche Belastung aufgebürdet bekommt. In diesem Falle betrifft es etwa 4 Speichen einer Speichenseite im Kontaktbereich des Laufrades mit der Fahrbahn.

Wiederum nur 75 N Zusatzlast für jede der Speichen? Ja, aber diese 75 N haben es in sich: Zu den 54,9 N, die durch die 900 N Speichenspannung zustande gekommen sind, gesellen sich jetzt weitere 75 N hinzu, was die Speichenspannung auf mehr als das Doppelte ansteigen läßt. Genauer: 129,9 N horizontale Kraftkomponente heißt für die Speichenspannung der vier Speichen bei 3,5 Grad Schräge:

\(F_{r} = \frac {129,9N}{\sin 3,5°} = 2127,8 N \)

Eine kleine Katastrophe, denn damit liegen wir bereits im Bereich der maximalen Speichenbelastbarkeit.

Dass unsere Laufräder aber trotzdem auch diese Belastung ertragen, liegt an dem Umstand, dass die Speichen im Bodenbereich

  • durch die vertikalen Betiebslasten ja bereits entlastet werden und
  • sich die Felge seitlich auslenkt und folglich auch die Speichenschräge samt horizontaler Kraftkomponente zunimmt.

Eine exakte Berechnung geht allerdings über den Anspruch dieses Beitrags hinaus, liegt aber immerhin noch knapp bei der Hälfte des überschläglich ermittelten Wertes. Natürlich ist das nach wie vor eine erhebliche Belastung für die Speichen und der kräftige Wiegetritt ist daher eine der Ursachen, dass Radsportler häufiger vom Speichenbruch betroffen sind als Normalradler.

Nebenbei bemerkt können bei dieser Maltretur sogar die den gestressten Speichen gegenübeliegenden Kolleginnen völlig entlastet werden, wenn insgesamt eine geringe Speichenspannung für das Laufrad gewählt wurde. Der energisch Wiegetritt läßt dann die Speichen klappern: Die völlig entlasteten Speichen tanzen alsdann in den Nipellöchern der Felge und erzeugen so nicht nur das Klappergeräusch, sondern unterliegen einer höheren Schwell-Last, die zum frühzeitigeren Speichenbruch führen kann. Mehr dazu im Kapitel Speichenbruch.

Eine weitere Zusatzbelastung für die Speichen tritt durch die Antriebkräfte auf. Wieder ist es der energischen Wiegetritt, der sodann für erhebliche zusätzliche Belastungen sorgt. Mit 1500 N kann nahezu jeder etwas forsche Radfahrer seine Pedale belasten, wenn er im Wiegetritt am Berg so richtig "Dampf" macht. Hat er dabei seine Kette auf einem 42 Kettenblatt liegen, so verdoppelt sich bereits die Kraft, da die Kurbel ziemlich genau zweimal so lang ist wie der Radius der 42er Kettenblattes. Wirken die nunmehr 3000 N Kettenzug auf ein beispielsweise aufliegendes 22er Ritzel einer Niederflansch-Nabe ein, dann müssen die im Nabenflansch eingefädelten Speichen sogar volle 6000 N "wegstecken" (der Radius des 22er Ritzels ist nämlich mit 44,5 mm noch einmal doppelt so groß ist wie der Teilkreisradius der Speichenbohrungen von Niederflanschnaben, der bei 22 bis 23 mm liegt).

Diese 6000 N wirken in Laufrad-Drehrichtung und können nur von den sogenannten Zugspeichen aufgenommen werden. Das sind jene Speichen, die von der Nabe aus gesehen nach links abgewinkelt sind. Bei unseren 36 Speichen trifft es nun nahezu nur die 9 Speichen auf der Zahnkranzseite, der rund 90% dieser Antriebskraft trägt, während der gegenüberliegende Flansch es lediglich mit den restlichen 10% zu tun bekommt. 90% von 6000 N macht 5400 N, geteilt durch 9 währen dann 600 N pro Speiche. Einzeln betrachtet sicherlich keine Extrembelastung, doch im Verbund mit den auch durch den Wiegetritt auftretenden Seitenkräften wird das auf Dauer doch zu einer insgesamt kernigen Belastung, die dann doch hin und wieder nach längerer Betriebsdauer diesen oder jenen Speichenbruch zur Folge haben.

Vor allem sportlich orientierte Radfahrer nehmen aus Gründen der Windschnittigkeit gern eine Reduzierung der Speichenanzahl vor. Das läßt natürlich die Belastung auf die einzelnen Speichen höher werden. Andererseits "hilft" sich aber Dank der Elastizität das spannungsgeladenen Gebildes Laufrad selbst, um die Kräfte auf die Speichen übermäßig groß werden zu lassen. Betrachten wir beispielsweise die Antriebslasten bei einem Shamal-Hinterrad mit nur 16 Speichen ingesamt: Hier längen sich die vorhandenen nur 4 Zugspeichen stärker und ein größerer Anteil der Antriebskraft gelangt über die Nabe auf den anderen Speichenflansch. Nehmen wir da einmal das Verhältnis 70 % Zahnkranzseite und 30 % Gegenseite an, so macht das 4200 N für die Zahnkranzseite und 1800 für die Gegenseite. Daraus resultieren dann 1050 N Zusatzlast für die Zugspeichen der Zahnkranzseite und 450 N Für die der Gegenseite.

Fazit

Das Speichenlaufrad ist ein Gebilde, bei dem die Speichen regelrecht im Team arbeiten und sich die von außen einwirkende Kräfte untereinander regelrecht kollegial aufteilen. Durch elastische Verformungen des Laufrades wird es dann sogar mit Extremlasten fertig und selbst bei Speichenbrüchen kollabiert das spannungsgeladene System Laufrad nicht gleich, sondern es stellt sich - mit dem Schönheitfehler eines Seiten- und Höhenschlages - sozusagen automatisch wieder sein inneres Gleichgewicht her.

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